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20 Jahre Pionierarbeit für Menschen im Wachkoma und ihre Angehörigen

Bergneustadt/Neuenothe – Wachkoma – das weckt Assoziationen an bewusstloses Dahinvegetieren, an menschliche Hüllen, die zwar Schlaf- und Wachphasen haben, Nahrung aufnehmen und verdauen können, aber ansonsten ohne Empfindung und Selbstbewusstsein am Rande des Todes dahindämmern. „Viele Ärzte und Pflegeeinrichtungen geben diese Patienten zu früh auf, beklagt Hrachia Shaljyan, Geschäftsführer des Bergneustädter Verein „Verein Patienten im Wachkoma“ (PIW.e.V.), der seit 1995 eine bundesweit einmalige private Einrichtung für 9 Patienten im Wachkoma und Angehörige unterhält. Auch als Pflegedienst ist PIW.e.V. von den Krankenkassen anerkannt.

Erwachsen ist die Einrichtung aus einer privaten Initiative von Ehepaar Hildegard und Dieter Baumhof, die in ihrem Privathaus ihre Tochter Ilona pflegten, die nach einer Routine- Operation ins Wachkoma fiel. Seit 2012 hat PIW sein Domizil wieder in dem aus- und umgebauten Baumhof-Haus und ist damit „zu den Wurzeln“ zurückgekehrt.

Etwa 10.000 Menschen fallen jährlich ins Wachkoma. Ein Herzinfarkt, Schlaganfall oder Unfall oder eine Reanimation zählen zu den häufigsten Ursachen für das Wachkoma, von dem Menschen jeden Alters betroffen sein können. Das „Apallische Syndrom“, wie das Wachkoma in der Fachsprache heißt, ist ein schlafähnlicher Zustand mit offenen Augen: Der Patient ist zwar wach, kann sich aber nicht für Laien erkennbar äußern.

Oberstes Ziel bei PIW ist es, selbst austherapierten Patienten im Wachkoma ein möglichst normales Leben in ihrem Zuhause mit einer größtmöglichen Teilhabe am Leben für Patienten und ihre Angehörige zu ermöglichen.

Die jahrzehntelange Pflege und Betreuung von Menschen im Wachkoma hat in dem inzwischen 30 köpfigen Team von PIW die Überzeugung gestärkt, dass Menschen auch im minimalen Bewusstseinszustand des Wachkomas viel mehr wahrnehmen als weithin angenommen. „Es liegt an uns, ihre Signale zur Kommunikation wahrzunehmen und zu verstehen“, so der aus Armenien stammende ausgewiesener medizinischer Fachmann in Sachen Wachkoma. Hrachya Shaljyan.

Die meisten Patienten, die nach Bergneustadt kommen, atmen mit Hilfe einer Trachealkanüle (Luftröhrenschnitt mit Absaugvorrichtung), und sind mit Magensonde und Katheter „pflegefertig“ gemacht worden.

Bei PIW e.V. hat man der dauerhaften Luftröhrenkanüle angesagt, deren rasselndes Schnorcheln durch Mark und Bein dringt, den Kampf. Denn sie verhindert, dass Patienten reden, schreien, schmecken und riechen können. Die Statistik, die Hrachia Shaljyan seit 2002 führt, spricht für sich: „198 von 200 Patienten konnten von der Trachealkanüle entwöhnt werden.“, berichtet er. Beim Ausschleichen überflüssiger sedierender Medikamente liegt die Quote bei mehr als 95 Prozent.

Auch essen sollen die Menschen im Wachkoma so normal wie möglich. Deshalb wird Sondenkost schrittweise abgesetzt und durch normale, pürierte Kost abgelöst. Wo Patienten (noch) nicht selbst schlucken und kauen können, wird die Magensonde nur in Gang gesetzt, wenn die Patienten sitzen. „Wir essen doch auch nicht im Liegen“, ist die einfache Erklärung.

Regelmäßiges Stehen, Training am Fahrrad, Logo-, Physio- und Ergotherapie durch hochspezialisierte Fachkräfte gehören in Bergneustadt zum Therapieprogramm. Auch die bei PIW entwickelten carniosakrale Warmwasser- Farb– und Klangtherapie „Berührungen im Licht“ dürfte einmalig sein. Mehrmals im Jahr sind dazu Menschen in veränderten Bewusstseinszuständen oder nach schwerem Trauma mit ihren Angehörigen zu mehrtägigen Behandlungen nach Winterberg eingeladen.

Ganz bewusst werden bei PIW Angehörige in die Pflege einbezogen. Denn Ziel ist, dass die Wachkoma-Patienten nicht in ein Dauerpflegeheim, sondern nach Hause entlassen werden können.

„Das hier ist kein Pflegeheim sondern ein Trainingslager für das Leben zu Hause. Wir sind kein Heim, wir bringen sie heim“, zitiert Mechthild Glunz, Logopädin und Vereinsvorsitzende das Motto von PIW.

Angehörige, für die sich das ganze Leben radikal ändert, wenn ein ihnen naher Mensch ins Wachkoma fällt, finden bei PiW menschliche und fachliche Unterstützung, etwa in Form von Beratung im Umgang mit Kassen und Behörden, Beschaffung von Hilfsmitteln und dem Angebot einer Selbsthilfegruppe

Etwa 10 Anfragen aus dem In- und Ausland landen pro Monat bei PIW e.V. Ganz bewusst will man dort. dennoch auf eine Erweiterung der Aufnahmekapazität verzichtet. „Unsere Stärke liegt auch in unserer familiären Atmosphäre, in der wir Therapie und Pflege nicht mit der Uhr in der Hand leisten. Diese Stimmung wollen wir unbedingt erhalten“, sind sich Hrachya Shaljyan und Mechthild Glunz einig. In Haus Ilona, ist nichts von steriler Krankenhaus-Atmosphäre zu spüren. Hier trägt niemand einen weißen Kittel. An den Wänden hängen Bilder von Angehörigen, es gibt Kuscheltiere oder andere Gegenstände, die den Patienten lieb sind.
Statt Wachstum steht bei PIW auch künftig die fachliche Weiterbildung in Sachen Pflege- und Rehabilitation von Patienten im Wachkoma auf der Prioritätenliste. Gerade im Bereich der computergestützten Kommunikation sieht Hrachia Shaljyan in den letzten Jahren große Fortschritte. Die Anschaffung entsprechender Hilfsmittel allerdings ist kostenintensiv, so dass Spenden nötig und willkommen sind.

Fortgesetzt werden sollen auch die Seminare in Armenien, mit denen PIW-Mitarbeitende in den letzten Jahren – unterstützt von der deutschen Botschaftt- schon mehrmals „Entwicklungshilfe“ in der Therapie und Pflege von Patienten im Wachkoma gegeben hat.

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